Wie wurden die Berichte über Jesus überliefert?

Kurze Antwort

Die Evangelien enthalten die Lehren, die Jesus seine Jünger gelehrt hat. Nach dem Tod und der Auferstehung von Jesus haben die Jünger sowie andere Augenzeugen ihre Erfahrungen mit Jesus zuerst mündlich weitergegeben. Diese mündlichen Berichte wurden jedoch relativ schnell aufgeschrieben. Die Kürze der Evangelien weist darauf hin, dass die Überlieferungen das Wesentliche über Jesus erhalten. Sie sind keine phantasievollen Geschichten.

„Schon viele haben es versucht, die Ereignisse im Zusammenhang aufzuschreiben, die Gott unter uns geschehen ließ – und zwar so, wie es uns von den Augenzeugen überliefert wurde. Die waren von Anfang an dabei und erhielten den Auftrag, das Wort zu verkünden. Auch ich bin all dem bis zu den Anfängen noch einmal sorgfältig nachgegangen. Dann habe ich mich dazu entschlossen, für dich, verehrter Theophilus, alles in der richtigen Reihenfolge aufzuschreiben. So kannst du dich davon überzeugen, wie zuverlässig die Lehre ist, in der du unterrichtet wurdest.“ (Lukas 1,1-4).

 

Dieses Vorwort des Lukas-Evangeliums hat bis in den Wortlaut hinein Gemeinsamkeiten mit den Einleitungen antiker Geschichtswerke. So kommen Begriffe wie „Bericht“, „Tatsachen“ oder „genau“ auch bei dem jüdischen Historiker Flavius Josephus vor (Jüdischer Krieg I 1-3), der etwas später schrieb. Lukas verstand sein Evangelium sowohl als Glaubensverkündigung, die auf die „Erfüllung“ der Verheißungen Gottes durch Jesus hinweist (Lukas 1,1), wie auch als Geschichtsschreibung. Deshalb gab Lukas Rechenschaft über seine mündlichen Informanten und schriftlichen Quellen. Aus dem Vorwort und dem Inhalt seiner Schrift lassen sich die wesentlichen Schritte der Überlieferung von Jesus bis hin zu den Evangelien erkennen.

 

1. Schritt: Jesus lehrte seine Jünger und stand so am Ursprung der Überlieferung

Wie die alttestamentlichen Propheten und andere jüdische Lehrer fasste Jesus Kernpunkte seiner Verkündigung in Merksätzen zusammen. Die Mehrzahl seiner Worte in den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) umfasst nur ein bis zwei Verse. Schon aufgrund ihrer Kürze waren diese Kernsätze gut im Gedächtnis zu behalten. Dazu kam noch, dass Jesus sie durch eine besondere Formung einprägsam machte. Das häufigste Stilmittel war dabei der parallelismus membrorum, den wir auch aus den Psalmen kennen. Eine Aussage wird in einem zweiten Satz mit teilweise denselben oder ähnlichen Worten wiederholt: „Himmel und Erde werden vergehen, / meine Worte aber werden nicht vergehen“ (Markus 13,31). Konkret müssen wir es uns so vorstellen, dass Jesus solche Merksätze oft durch eine besondere Einleitung wie „Amen, ich sage euch…“ hervorhob und während einer längeren Rede auch mehrmals wiederholte. Die kurzen Merksätze wie auch die längeren, aber dafür bildhaft einprägsamen Gleichnisse hat Jesus bei unterschiedlichen Gelegenheiten vorgetragen. Auch dadurch konnten sich die Jünger diese Lehrzusammenfassungen einprägen. Unser Ausdruck „Jünger“ geht auf ein Wort zurück, das im Griechischen wie auch im Hebräischen und Aramäischen „Schüler“ bedeutet. Die Jünger lernten Jesu Worte, um sie bei der vorösterlichen Aussendung in ihrer Predigt weitergeben zu können (Lukas 10,16).

 

2. Schritt: Einige Augenzeugen wurden nach Ostern besondere Überlieferungsträger

In der Jerusalemer Urgemeinde bildete der Zwölferkreis unter Leitung des Petrus die führende Gruppe. Ihre Autorität bestand außer in der Berufung durch den Auferstandenen vor allem darin, dass sie Jesus vor Ostern als „Augenzeugen“ ständig begleitet hatten (Apostelgeschichte 1,21-25). So bildeten die Zwölf eine lebendige Brücke der Erinnerung und konnten deshalb als „Diener des Wortes“ die Aussprüche Jesu zuverlässig an die Neubekehrten „überliefern“ (Lukas 1,2). Auch brachte vor allem Petrus viele Erzählungen über Jesus in eine kurze, auf das Wesentliche konzentrierte und damit leicht zu behaltende Form, die auf Griechisch „chreia“ genannt wurde. Das erfahren wir durch Papias von Hierapolis, der um 100 Bischof der schon aus dem Kolosser-Brief (Kolosser 4,13) bekannten Gemeinde Hierapolis war (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,14). Wir würden uns ja oft wünschen, die Berichte über Jesus wären ausführlicher. Aber die Kürze weist darauf hin, dass es darum ging, Wesentliches treu zu bewahren und nicht der Phantasie freien Lauf zu lassen.

 

3. Schritt: Jesus-Überlieferungen hat man früh zur Gedächtnisstütze aufgeschrieben

Das war eine in jüdischen und griechisch-römischen Schulen, aber auch bei gebildeten Privatleuten selbstverständliche Praxis. Das Vorwort des Lukas-Evangeliums setzt voraus, dass solche schriftlichen Aufzeichnungen von Jesus-Überlieferungen neben der Unterweisung existierten, die Theophilos erhalten hatte. Für dieses mündliche „Unterrichten“ gebraucht Lukas den seltenen Begriff „katēchein“ (Lukas 1,4), der bis hin zum „Katechismus“ ein Spezialausdruck für die christliche Unterweisung wurde. Obwohl es „viele“ solcher Notizen gab (Lukas 1,2), blieben sie uns nicht erhalten, weil sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, sondern vor allem urchristlichen Lehrern als Gedächtnisstützen dienten. Durch die Herausgabe der Evangelien wurden diese informellen Aufzeichnungen überflüssig.

 

4. Schritt: Die veröffentlichten Evangelien ersetzten die lebenden apostolischen Zeugen

Die Jahre zwischen 60 und 70 n. Chr. waren für das Urchristentum eine dramatische Krisen- und Schwellenzeit. 62 starb der Herrenbruder Jakobus als Märtyrer in Jerusalem, um 63/65 Paulus und Petrus im Zusammenhang der Verfolgung durch Nero in Rom. Im Jahr 70 ging im jüdisch-römischen Krieg das geistliche Zentrum Jerusalem verloren. Die bis dahin durch apostolische „Augenzeugen“ lebendige Überlieferung musste festgehalten werden, um nicht zu verwildern oder verloren zu gehen. In den wichtigsten, weit voneinander entfernten Kirchengebieten wurden Evangelien veröffentlicht: Markus für Gemeinden in Rom und Italien, Lukas für paulinische Gründungen in Griechenland und Kleinasien, Matthäus für judenchristliche Gemeinschaften in Galiläa und Syrien. Das Johannes-Evangelium wurde erst am Ende des 1. Jahrhunderts in Ephesus als Ergänzung veröffentlicht, weil der Garant seiner Überlieferung ein sehr hohes Alter erreichte (Irenäus, Adversus Haereses II 22,5). Damit dieses „geistliche Evangelium“, wie Clemens von Alexandrien es nannte (Eusebius, Kirchengeschichte VI 15,4-7), nicht die anderen drei verdrängte, wurde offensichtlich im Schülerkreis des Johannes die Vier-Evangelien-Sammlung in einem Kodex vereint herausgegeben. Die so genannten „apokryphen Evangelien“ stammen frühestens aus der Mitte des 2. Jahrhunderts und haben deshalb keine Verbindung zu den Augenzeugen. Diese Schriften sind meist von den vier kanonischen Evangelien abhängig, denen wir unser zuverlässiges Wissen über Jesus verdanken.

 

 

Prof. em. Dr. Rainer Riesner

Albrecht-Bengel-Haus (https://www.bengelhaus.de/)

(Erschien ursprunglich in Theologische Orientierung Nr. 187, S. 20-21)

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Geändert am: 14.08.2024

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