Jesus hat den Willen seines Vaters durch persönliche Offenbarungen und durch das Lesen und Verinnerlichen der Heiligen Schrift erfahren. Er hat viel mit seinem himmlischen Vater gesprochen, also zu ihm gebetet. Jesus tat immer das, was der Vater ihm zeigte. Sogar in seiner größten Herausforderung, angesichts seines bevorstehenden Todes, stellte er den Willen seines Vaters über seinen eigenen.
Mit der Frage „Wie hat Jesus den Willen des Vaters erfahren?“ berühren wir das Geheimnis der Person Jesu. Es war Brauch, dass zwölfjährige Jungen vor Schriftgelehrten ihre Bibelkenntnis zeigten. So etwas schildert Lukas 2 und am Schluss heißt es: Jesus „kehrte mit seinen Eltern nach Nazaret zurück…Und Jesus wuchs heran. Er wurde älter und weiser. Gott und die Menschen hatten ihre Freude an ihm.“ Hier zeigt sich: Jesus war als Kind nicht allwissend. Das ist wirkliches Menschsein. Aber auf den Vorwurf Marias: „warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich verzweifelt gesucht!“, antwortete Jesus: „ich [muss] im Hause meines Vaters sein.“ (Lukas 2,48f). Hier scheint eine Verbundenheit mit seinem himmlischen Vater auf, die über die eines frommen Juden weit hinausgeht. Schon hier deutet sich an, was die Alte Kirche mit der Aussage „wahrer Mensch und wahrer Gott“ begrifflich zu erfassen suchte.
War Jesus als Erwachsener allwissend? Hören wir ihn selbst! „An welchem Tag oder zu welcher Stunde das sein wird, weiß niemand - auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.“ (Markus 13,32). Der Mensch gewordene Sohn bekennt, dass er den Willen des Vaters hier noch nicht weiß. Wie aber hat Jesus diesen Willen erfahren, den er immer wieder verkündigte? Matthäus 11,27 deutet es an: „Alles hat mir mein Vater übergeben. Niemand kennt den Sohn, nur der Vater. Und niemand kennt den Vater, nur der Sohn - und die Menschen, denen der Sohn den Vater zeigen will.“ Die „Übergabe“ der Offenbarung geschah nach der Verbform zu einer bestimmten Zeit, wahrscheinlich bei Taufe und Versuchung. Seitdem verkündigte Jesus: „Die von Gott bestimmte Zeit ist da. Sein Reich kommt jetzt den Menschen nahe. Ändert euer Leben und glaubt dieser Guten Nachricht!“ (Markus 1,15). „Alles hat mir mein Vater übergeben“ bedeutet auch hier nicht Allwissenheit, sondern: Der Vater hat dem Sohn alles offenbart, was er für seinen messianischen Auftrag wissen musste.
Geschah diese Offenbarung einmalig oder immer wieder? In Johannes 5,19 heißt es: „Amen, amen, das sage ich euch: Von sich aus kann der Sohn nichts tun. Er kann nur das tun, was er den Vater tun sieht. Was der Vater tut, das tut genauso auch der Sohn.“ Damals lernte ein Sohn fast immer den Beruf des Vaters. Der Vater war Lehrmeister und gab sein Wissen auch dadurch weiter, dass der Sohn sein Tun nachahmte. Jesus war darauf angewiesen, dass ihm der Vater zeigt, wie er handeln soll. Dabei gibt es eine einzigartige Verbundenheit: „Der Vater liebt den Sohn. Er zeigt ihm alles, was er selbst tut.“ (Johannes 5,20).
Neben der persönlichen Offenbarung hat Jesus den Willen des Vaters auch im Alten Testament gefunden. Jesus lebte in der Heiligen Schrift seines Volkes. Schon in der Synagogenschule lernte er weite Teile auswendig. Seine Worte sind von Zitaten und Anspielungen durchzogen. Als ein Schriftgelehrter nach dem ewigen Leben fragte, entgegnete Jesus: „Was steht im Gesetz? Was liest du da?“ (Lukas 10,25f). Darauf zitierte der Schriftgelehrte aus dem jüdischen Glaubensbekenntnis, dem Schema Jisrael: „Du sollst den Herrn deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken.“ (Lukas 10,27; vgl. 5. Mose 6,5). Und Jesus bestätigte das als weiter gültigen Willen Gottes (Lukas 10,27f).
Beim Umgang Jesu mit dem Alten Testament gab es aber auch eine Provokation und das hängt mit der Frage zusammen „Wie hat Jesus den Willen des Vaters verkündigt?“ Jesus lehrte: „Es ist gesagt worden [nämlich durch Mose]: ›wer sich von seiner Frau scheiden lassen will, muss ihr eine Scheidungsurkunde ausstellen.‹ (vgl. 5. Mose 24,1-3). Ich sage euch aber: Jeder, der sich von seiner Frau scheiden lässt, der macht sie zur Ehebrecherin - außer, sie war vorher schon untreu. Und wer eine geschiedene Frau heiratet, begeht ebenso Ehebruch.“ (Matthäus 5,31f). Hier beansprucht Jesus zu wissen, was der eigentliche Wille Gottes ist und was nur eine zeitweise Zulassung. Ein solches „ich aber sage euch“ kann nur der aussprechen, der Gottes Willen unmittelbar kennt, weil er der Sohn ist.
Die dritte Frage lautet „Wie hat Jesus den Willen des Vaters gelebt?“ Obwohl Jesus in einer Weise, die wir nur erahnen können, stets mit dem Vater verbunden war, hat er sich zum Gebet zurückgezogen. Das zeigt ihn als wirklichen Menschen, der sich wie wir der Ablenkung entziehen muss. Jesus hatte in Kapernaum verkündigt und geheilt. Die Menschen drängten sich bis zum Abend um ihn, aber „am Morgen, als es noch dunkel war, verließ JEsus die Stadt. Er ging an einen einsamen Ort und betete dort. Simon und die anderen suchten nach ihm. Als sie ihn gefunden hatten, sagten sie zu ihm: »Alle suchen nach dich.«“ (Markus 1,35-37). Die Jünger erwarteten, zu bleiben, aber Jesus sagte: „»Lasst uns in andere Dörfer in dieser Gegend gehen. Ich will auch dort die Gute Nachricht verkünden, den dazu bin ich gekommen.«“ (Markus 1,38). Der Wille Gottes, den Jesus im Gebet erfahren hatte, bedeutete gefährlichen Aufbruch, denn eine landesweite Verkündigung erweckte den Verdacht von Herodes Antipas (Lukas 13,31ff).
Markus 1,12 formuliert hart: Nach der Taufe „trieb der Geist Jesus in die Wüste. Dort wurde er 40 Tage vom Satan auf die Probe gestellt.“ (Markus 1,12). Wer vernünftig ist, der begibt sich nicht ganz allein für Wochen in die Wüste. Dass Jesus nicht lebensmüde war, sehen wir daran, wie er sich lange der Verfolgung entzog. Es brauchte offensichtlich eine kräftige Einwirkung durch Gottes Geist, damit Jesus in die tödlichen gefahren der Wüsteneinsamkeit aufbrach. Der Geist „trieb“ ihn dorthin. Es gab offenbar besondere Hinweise des Geistes auf den Willen des Vaters.
Gethsemane zeigt Jesus in seiner ganzen Verletzlichkeit: „[Er] sagte zu seinen Jüngern: »Bleibt hier sitzen, während ich bete« ... plötzlich überfielen ihn Angst und Schrecken, und er sagte zu ihnen: »Ich bin verzweifelt und voller Todesangst. Wartet hier und bleibt wach.« “ (Markus 14,32f). Jesus weiß, dass ihm das Kreuz bevorsteht: „Abba, mein Vater, für dich ist alles möglich. Nimm doch diesen Becher fort, damit ich ihn nicht tinken muss! Aber nicht das, was ich will, soll geschehen - sondern das, was du willst!“ (Markus 14,36). Auch in der Anfechtung bewährte sich die feste Verbundenheit mit dem Vater. „Abba“ ist eine kindlich-vertrauensvolle Anrede. Jesus machte den Willen des Vaters zu seinem eigenen. Dabei konnte Jesus „den Kelch des Zornes Gottes“ (Jesaja 51,17) nur stellvertretend trinken, weil er kein mit Schuld beladener Mensch ist. Auch in Gethsemane ist er „wahrer Mensch und wahrer Gott.“
Prof. em Dr. Rainer Riesner
Albrecht-Bengel-Haus (https://www.bengelhaus.de/)
(Erschien ursprunglich in Theologische Orientierung Nr. 190, S. 18–19)