Das Johannesevangelium liefert einen einzigartigen Einblick in das Leben von Jesus Christus. Es erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Biografie zu sein. Trotzdem enthält es die wichtigsten Informationen über das Leben von Jesus und wurde von einem Augenzeugen verfasst (Johannes 21,24). Unter anderem wird über den öffentlichen Dienst von Jesus, seine Begegnungen mit Menschen und die wachsende Ablehnung ihm gegenüber berichtet. Aber auch über seine Verhaftung und Hinrichtung – und natürlich über seine Auferstehung.
Was ist ein Evangelium?
Das Johannesevangelium ist das letzte der vier Evangelien, die am Anfang des Neuen Testaments stehen. Die Evangelien sind Darstellungen des Lebens und des Wirkens von Jesus von Nazaret. Sie enthalten die wichtigsten Ereignisse sowie ihre theologische Bedeutung und wurden von den ersten Nachfolgern von Jesus verfasst. Die Evangelien haben unterschiedliche Schwerpunkte und erheben nicht den Anspruch, vollständige Biografien im heutigen Sinn dieses Wortes zu sein. Im Johannesevangelium wird sogar ausdrücklich betont: „Jesus hat aber noch viel mehr Taten vollbracht. Wenn alles einzeln aufgeschrieben werden sollte, so denke ich: Diese Welt könnte die Bücher nicht fassen, die dann geschrieben werden müssten.“ (Johannes 21,25) Es wird also deutlich: Das Evangelium stellt nur eine kleine Auswahl von Ereignissen aus dem Leben von Jesus Christus dar.
Die Einzigartigkeit des Johannesevangeliums
Dabei fällt schon beim oberflächlichen Lesen der Evangelien auf, dass das Johannesevangelium sich am stärksten von den anderen drei unterscheidet. Schon das Vorwort (Johannes 1,1-18) macht klar: Hier geht es um mehr als nur um eine nüchterne Aufzählung von ein paar Ereignissen aus dem Leben von Jesus. Das Vorwort leitet mit einer kunstvollen und sehr bildhaften Ausdrucksweise in das Buch ein. Es lädt die Leser ein, in Ruhe und intensiv über das Leben von Jesus nachzudenken. Sie sollen sich seine Reden zu Herzen nehmen und sich davon verändern lassen.
Das bedeutet nicht, dass das Leben von Jesus im Johannesevangelium verzerrt dargestellt würde. So wie die anderen drei Evangelien ist es ein zuverlässiger Bericht von einem Menschen, der nah am Geschehen dran war. Es ist sogar das einzige Evangelium, das ausdrücklich betont, ein Augenzeugenbericht zu sein: „Derjenige, der das gesehen hat, hat es bezeugt. Seine Zeugenaussage ist glaubwürdig. Er weiß, dass er die Wahrheit sagt. Dadurch könnt auch ihr zum Glauben kommen.“ (Johannes 19,35) „Dieser Jünger ist es, der Zeuge all dieser Ereignisse gewesen ist, die er hier aufgeschrieben hat. Und wir wissen, dass alles glaubwürdig ist, was er bezeugt.“ (Johannes 21,24) Überhaupt kommt das Wort „Zeuge sein“ im Johannesevangelium mit Abstand am häufigsten von allen biblischen Büchern vor.
Gemeinsamkeiten mit den anderen Evangelien
Daher werden auch die wichtigsten Details aus dem Leben von Jesus erwähnt, von denen auch andere Evangelien berichten. Dazu gehören beispielsweise die Verbindung von Jesus mit Johannes dem Täufer (Johannes 1,6f.15.19-37; 3,23-30; 10,40-42) und die Berufung der ersten Nachfolger von Jesus (1,37-51). Die übernatürlichen Wunder, die Jesus öffentlich vollbrachte, werden im Johannesevangelium ebenfalls erwähnt. Etwa die Speisung von etwa 5.000 Menschen, von der in allen vier Evangelien berichtet wird (6,1-13). Wie die anderen drei Evangelien beschreibt auch das Johannesevangelium, dass Jesus öffentlich predigte und lehrte, etwa in Synagogen (6,26-59). Johannes erwähnt sogar eine mögliche öffentliche Meinung überJesus: „Rabbi, wir wissen: Du bist ein Lehrer, den Gott uns geschickt hat. Denn keiner kann solche Zeichen tun, wie du sie vollbringst, wenn Gott nicht mit ihm ist.“ (3,2)
Allerdings berichtet Johannes im Einklang mit den anderen Evangelien, dass die Wunder und die Aussagen von Jesus nicht nur Befürworter fanden. Jesus wagte es, menschliche Traditionen infrage zu stellen (z. B. 4,21-23) und sich über religiöse Bräuche seiner Zeit hinwegzusetzen. Etwa den Sabbat, an dem er unerlaubterweise einen Menschen heilte (5,1-16), oder den Tempel, aus dem er in einer symbolhaften Handlung die Händler austrieb (2,13-16). Auch die kontroversen Aussagen aus den Lehren von Jesus waren vielen ein Dorn im Auge (6,60: „Das war eine unerträgliche Rede! Wer kann sich so etwas anhören?“; 8,58f: „Jesus antwortete ihnen: ‚Amen, amen, das sage ich euch: Ich bin – schon bevor Abraham da war.‘ Da hoben sie Steine auf, um ihn zu steinigen.“). Es dauerte deshalb nicht lange, bis man den Entschluss fasste, Jesus zu töten.
Für Jesus selbst schien das keine Überraschung zu sein. Er diagnostizierte das Hauptproblem seiner Gegner als Unglaube und fehlende Beziehung zu Gott: „Auch sein Wort bleibt nicht bei euch. Denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat. Ihr erforscht die Heilige Schrift, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu haben. Tatsächlich ist sie mein Zeuge. Doch ihr wollt nicht zu mir kommen, um das ewige Leben zu haben. Ich bin nicht darauf aus, von Menschen geehrt zu werden. Vielmehr kenne ich euch und weiß, dass ihr keine Liebe zu Gott in euch habt.“ (5,38-42) Und wie die anderen Evangelisten berichtet Johannes, dass Jesus seinen eigenen Tod voraussagte – aber auch seine Auferstehung (2,19-22).
Auch das vierte Evangelium schildert den feierlichen Einzug von Jesus in die Hauptstadt und das religiöse Zentrum Jerusalem (12,12-18) – kurz bevor er von Judas, einem seiner Nachfolger, verraten und von römischen Soldaten sowie religiösen Oberhäuptern verhaftet wurde (18,1-14). Erwähnt werden auch der Gerichtsprozess, die öffentliche Verspottung und Geißelung sowie das unrechtmäßige Urteil über Jesus durch Pontius Pilatus (18,38: „Nach diesen Worten ging Pilatus wieder zu den Vertretern der jüdischen Behörde hinaus. Er sagte: ‚Ich halte ihn für unschuldig.‘”; vgl. 18,13-19,12). Sogar eines der bekanntesten Details wird berücksichtigt: Petrus, einer der engsten Nachfolger von Jesus, leugnete ihn am Ende und ließ ihn im Stich (18,15-18.25-27).
Schließlich beschreibt Johannes ausführlich, wie Jesus sein Hinrichtungswerkzeug zum Ort seiner Todesstrafe trug und dort gekreuzigt wurde (19,13-30). Er betont, dass Jesus tatsächlich starb (19,31-34) und daraufhin in ein Grab gelegt wurde (19,38-42). Doch wie bei den anderen Evangelien bildet nicht das den Höhepunkt, sondern die Ereignisse danach. So stellten die Nachfolger von Jesus fest, dass sein Grab leer war (20,1-10). Darauf erschien Jesus mehrfach (20,14-29) und betonte damit die Leibhaftigkeit seiner Auferstehung. Er stattete seine Nachfolger mit dem Heiligen Geist aus und sandte sie nach dem Vorbild seiner eigenen Sendung durch Gott aus.
Besonderheit des Johannesevangeliums: Jesus begegnet Menschen
Im Gegensatz zu den anderen Evangelien berichtet Johannes in der Regel deutlich ausführlicher über die Begegnungen von Jesus mit unterschiedlichen Menschen – ob mit Theologen (3,1-21), Außenseiterinnen der Gesellschaft (4,1-26) oder seinen Nachfolgern (6,60-71). Unmittelbar vor seiner Verhaftung unterhielt sich Jesus intensiv mit zwölf bzw. elf seiner engsten Jünger und wusch ihnen dabei die Füße (siehe 13,1-17). Diese Begegnung wird im Johannesevangelium sehr umfangreich beschrieben (siehe Kapitel 13-17). Die Leser werden eingeladen, auch eine Begegnung mit Jesus zu suchen, die ihr Leben auf den Kopf stellen könnte.
Das Ziel des Johannesevangeliums
Sehr passend also, dass Johannes den Zweck seines Buches ausdrücklich formuliert: „Jesus hat vor den Augen seiner Jünger noch viele andere Zeichen getan. Sie sind nicht in diesem Buch aufgeschrieben. Was aber in diesem Buch steht, wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes! Wenn ihr das glaubt, habt ihr das wahre Leben durch ihn!“ (20,30-31). Mit allen Mitteln wird hier unterstrichen, dass Jesus der lang ersehnte Messias ist, auf den die Israeliten warten und den Gott in den Heiligen Schriften versprochen hat. Kein Wunder also, dass das Evangelium enorm viele indirekte und direkte Bezüge auf das Alte Testament enthält, etwa Verweise auf Erfüllungen der Heiligen Schrift (z. B. 12,37-41).
Das Johannesevangelium macht unmissverständlich deutlich: Jesus ist Gott. Es betont wie kein anderes Evangelium die innige Beziehung zwischen Gott, dem Vater, und Gott, dem Sohn. Johannes will nicht nur über das Leben von Jesus Christus informieren. Er will, dass die Leser daran glauben: Das, was Jesus vollbracht hat, hat mit ihrem Leben zu tun – und sie können dadurch ewiges Leben mit göttlicher Qualität erfahren.
Alexander Dalinger
Bibelschule Brake (https://www.bibelschule-brake.de/)
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