Für Zeugen Jehovas ist Jesus Christus identisch mit dem Erzengel Michael. Er ist für sie nicht Gott der Sohn, sondern das erste Geschöpf Gottes, ein Engelwesen. Dieses wurde auf der Erde zu einem vollkommenen Menschen und stieg nach Tod und Auferstehung zu einer höheren Engelstufe auf. Zeugen Jehovas glauben nicht wie die meisten Christen an einen dreieinigen Gott (Vater, Sohn, Heiliger Geist), sondern an Jehova als den einzig wahren Gott. Ein Engelwesen kann uns jedoch nicht erlösen.
Nach Vorstellung der Zeugen Jehovas ist Jesus Christus lediglich der Mensch gewordene Erzengel Michael. Dieser durchlief drei Stufen:
Lange vor allen anderen Wesen, auch vor Luzifer (Satan), wurde er als oberster Cherub, als Erzengel oder Logos, von Jehova geschaffen (erste Stufe).
Zu Beginn unserer Zeitrechnung verließ er den Bereich der Geistgeschöpfe und wurde ein vollkommener Mensch, Jesus Christus. Mit der Hingabe seines vollkommenen menschlichen Lebens (bzw. Leibes) bezahlte er das Lösegeld für die Übertretung Adams (zweite Stufe).
Nach seinem Tod als Mensch am Kreuz wurde er von Jehova wieder als Geistgeschöpf in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen. Nun aber auf einer höheren Stufe als zuvor, auf einer „göttlichen“ Stufe (und doch nicht gleich mächtig wie der allmächtige Gott). Dabei besaß er die Fähigkeit, mithilfe Jehovas die Leiber des „auferstandenen“ Jesus zu „materialisieren“ (dritte Stufe).
Zum Beleg dieser Ansichten gebe ich einige Zitate zum Stichwort „Jesus Christus“ aus dem Bibellexikon der Wachtturm-Gesellschaft wieder:
„Ehe Jesus auf der Erde geboren wurde, erschienen auf unserem Planeten Engel in Menschengestalt. Wahrscheinlich nahmen sie für die Gelegenheit passende Körper an, und wenn ihr Auftrag erledigt war, entmaterialisierten sie sich wieder ... Sie blieben also Geistgeschöpfe und gebrauchten lediglich für eine gewisse Zeit einen physischen Leib. Als aber der Sohn Gottes auf die Erde kam und er der Mensch Jesus wurde, verhielt es sich anders ...
Sind die Schätzungen heutiger Wissenschaftler bezüglich des Alters des physischen Universums auch nur annähernd korrekt, dann begann das Dasein Jesu als Geistgeschöpf Tausende von Millionen Jahren vor der Erschaffung des ersten Menschen ... Der Vater gebrauchte diesen erstgeborenen Geistsohn, um alles andere zu erschaffen ... Dazu gehören auch die Millionen anderer Geistsöhne der himmlischen Familie Jehovas ...
Von der Zeit seiner Geburt an war Jesus der Sohn Gottes, so wie der vollkommene Adam der ‚Sohn Gottes‘ war ... Durch ihn offenbarte er [Jehova] die Bedeutung des ‚heiligen Geheimnisses‘, gab auf die von Gottes Widersacher aufgeworfene Streitfrage eine Antwort und beschaffte durch das Loskaufsopfer das Mittel, durch das gehorsame Menschen von der Sünde und vom Tod befreit werden konnten ... ‚Er entäußerte sich‘ der himmlischen Herrlichkeit und der geistigen Natur und ‚nahm Sklavengestalt an‘; sein Leben wurde umgewandelt, und er wurde von der Stufe eines Geistgeschöpfes auf die Stufe eines Menschen aus Fleisch und Blut herabgesetzt ... Jesus konnte als der erstgeborene Sohn, der Erste unter den Geschöpfen Gottes, die überzeugendste Antwort auf die Behauptung Satans geben und bezüglich der wichtigen Streitfrage über die Rechtmäßigkeit der universellen Souveränität Jehovas zugunsten seines Vaters das beste Zeugnis ablegen ...
Als Jehova seinen einziggezeugten Sohn auswählte, ‚legte er ihm natürlich die Hände nicht voreilig auf‘, denn dadurch wäre er Gefahr gelaufen, ‚an den Sünden, die er eventuell hätte begehen können, teilzuhaben‘. Jesus war kein Neubekehrter, der vielleicht ‚stolz geworden und dem Urteil verfallen wäre, das über den Teufel gefällt ist‘ ... Da durch den Sohn alles ins Dasein kam, war er ein Gott, ‚der einziggezeugte Gott‘ (Johannes 1,18), und nahm daher unter allen anderen Geistsöhnen Gottes eine Vorrang- und Ehrenstellung ein. Dennoch wurde er nicht hochmütig ... Es sei noch bemerkt, dass der Geistsohn, der zum Satan wurde, ... Gott nicht treu [war] ... und so beging er die Sünde der Rebellion ... Seine Liebe hielt einer Prüfung nicht stand“ (Wachtturm-Gesellschaft, Hilfe zum Verständnis der Bibel, 1971; dt. 1980, S. 788 ff.).
An solche Aussagen ist eine Reihe von Fragen zu stellen.
Zunächst zeigt sich hier, wie schillernd das Gottesbild der Zeugen Jehovas ist. Es wird behauptet, Gott müsse gegenüber der Herausforderung durch Luzifer-Satan seine Souveränität beweisen. Aus manchen Stellen der Bibel, etwa in Hiob 1, könnte man eine solche Gottesauffassung ableiten. Nirgendwo in der Bibel wird Gott aber so auf eine Ebene mit Satan gestellt, als ob sie Konkurrenten seien und als ob Gott sich gegenüber Satan als der Stärkere erweisen müsste. Die Zeugen Jehovas würden dies zwar weit von sich weisen, aber solche Gedanken nähern sich doch gefährlich einem Dualismus an. Dualismus bedeutet, zwei – in der Regel gleich starke – Mächte ringen um die Herrschaft. Und das widerspricht der Einzigartigkeit, Souveränität und Allmacht Gottes total (vgl. 2. Mose 3,14f; 5. Mose 6,4). Letztlich sind solche Aussagen der Zeugen Jehovas über Gott ein Hinweis darauf, dass sie trotz ihrer dauernden Betonung der Einzigkeit und Absolutheit Jehovas den wirklichen, absoluten Gott der Bibel gar nicht kennen. Vielmehr haben sie sich einen eigenen Gott zusammengebastelt, der sich in das von ihnen entworfene Weltendrama einzufügen hat.
Das zeigt sich vollends, wenn wir nun den Blick auf Christus richten. Christus ist laut der Bibel kein Geschöpf, sondern die zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit. Hier setzt sich die dualistische Sicht der Zeugen Jehovas bezüglich des Gottesbildes auf verschiedenen Ebenen fort. Es wird ein Dualismus konstruiert zwischen Michael und Luzifer, zwischen Jesus und Luzifer – und auf einer anderen Ebene auch zwischen (Michael)-Jesus und Adam. Jesus wird ja nur als Engelwesen oder (zeitweilig) bloßer Mensch gesehen. Deshalb erscheinen solche Gegenüberstellungen zwischen geradezu „gleichgestellten Partnern“ oder „Kontrahenten“ als legitim.
Dabei wird freilich außer Acht gelassen, dass Jesus eben nicht auf gleicher Ebene wie Engel oder Menschen steht. Sondern er gehört ganz auf die Seite Gottes. Seine Menschwerdung darf nicht so missverstanden werden, als sei er bloßer Mensch gewesen. Vielmehr war er wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Während er auf der Erde lebte, hat er sich nicht seines „Engelseins“ entäußert, sondern seiner göttlichen Gestalt. Dabei hat er aber nicht seine göttliche Wesensart verloren (Philipper 2). Die Zeugen Jehovas hingegen werten Jesus Christus ab. Zwar räumen sie seinem „Loskaufsopfer“ eine zentrale Stelle ein. Aber dieses reicht ihrer Meinung nach für die Erlösung nicht aus.
Vor allem vier Bibelstellen ziehen die Zeugen Jehovas zur Behauptung der Identität von Jesus Christus und dem Erzengel Michael heran: Daniel 12,1; 1. Thessalonicher 4,16; Judas 9und Offenbarung 12,7-12. An allen diesen Stellen ist vom Engelfürsten Michael die Rede. „Michael“ bedeutet „Wer ist wie Gott?“ – und nicht „der wie Gott ist“. Michael nimmt als der oberste der Engel und „Oberbefehlshaber“ der göttlichen Engelheere eine bevorzugte Stellung ein. Das wird an allen Bibelstellen, wo sich sein Name findet, deutlich. Aber nirgends wird er mit Jesus Christus identifiziert. Vielmehr steht Jesus über Michael und allen Engeln (vgl. Hebräer 1 u. a.).
An manchen Stellen der Bibel ist von einem Kampf zwischen Michael und Satan die Rede, z. B. in Daniel 12,1 und Offenbarung 12,7-12. Doch dort handelt Michael in der Vollmacht und im Auftrag von Jesus Christus, aber nicht als Christus. Immer wieder wird in der Heiligen Schrift betont, dass Jesus Christus nicht allein gegen Satan und die dämonischen Mächte streitet. Sondern er wird begleitet von seinen Engeln – und unter ihnen befindet sich an vorderster Stelle Michael, der Erzengel. Dessen Stimme wird zusammen mit der Posaune Gottes bei der Wiederkunft von Jesus erschallen (1. Thessalonicher 4,16; vgl. Matthäus 24,30f und die Parallelstellen; 2. Thessalonicher 1,7).
Die Stimme Michaels ertönt nur zum Gericht über die Welt. Bei der Auferweckung der Toten hingegen erschallt allein die Stimme von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Jesus Christus allein – und nicht der Erzengel Michael – hat Macht, die Toten zum Leben zu rufen (Johannes 5,25.28f). Denn er ist nicht Geschöpf, sondern der eingeborene, einzigartige Sohn des lebendigen Gottes.
Dr. Lothar Gassmann
www.L-Gassmann.de
Literatur: Lothar Gassmann: Zeugen Jehovas – Punkt für Punkt biblisch widerlegt; 357 Seiten, Selbstverlag 2022