Warum sind die Evangelien über Jesus Christus unterschiedlich?

Kurze Antwort

Jedes der vier Evangelien bietet einen einzigartigen Einblick in die Person Jesus Christus und beschreibt ihn aus einer bestimmten Perspektive. Die Evangelien erzählen zwar dieselbe Geschichte, doch möchten sie dabei unterschiedliche Themen betonen. Dafür sind die Evangelien unterschiedlich aufgebaut und erzählen dieselben Geschichten teilweise mit anderen Schwerpunkten.

Die vier Evangelien erzählen die frohe Botschaft, dass Menschen durch Jesus Christus mit Gott versöhnt werden können. Dabei gibt jedes Evangelium den Lesern einen besonderen Einblick in die Person Jesus, wer er ist und was er getan hat. Schon beim Lesen der ersten Zeilen machen die Evangelien deutlich, welche Aspekte sie über Jesus hervorheben möchten. 

 

Der Blickwinkel des Matthäusevangeliums 

So beginnt das Matthäusevangelium: „Das Buch vom Ursprung und der Geschichte von Jesus Christus, der ein Sohn Davids und ein Nachkomme Abrahams war“ (Matthäus 1,1). „Sohn Davids“ ist eine gängige Bezeichnung für den Messias, durch den Gott seine Versprechen erfüllen wird. Dieser wurde schon im Alten Testament, der hebräischen Heiligen Schrift, angekündigtDas Matthäusevangelium möchte vor allem jüdischen Lesern aufzeigen, dass ihr langes Warten auf den Messias ein Ende hat: Jesus ist der königliche Messias und er ist schon gekommen! Um diese Behauptung zu beweisen, zitiert das Matthäusevangelium mehr Aussagen aus dem Alten Testament als jedes andere Evangelium. Immer wieder lesen wir die Worte: „damit in Erfüllung ging“, was in den Schriften des Alten Testaments angekündigt wurde (z.B. Matthäus 1,22; Matthäus 2,15). Viele einzelne Geschichten im Matthäusevangelium dienen also dem Zweck, Jesus als den versprochenen Messias darzustellen. 

 

Der Blickwinkel des Markusevangeliums 

Das Markusevangelium beginnt etwas anders: „Die gute Nachricht von Jesus Christus, dem Sohn Gottes: Anfang und Grundlage“ (Markus 1,1). Hier betont das Markusevangelium, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist. Diese Behauptung zieht sich durch die gesamte Erzählung (z.B. Markus 1,11; Markus 1,24) und gipfelt im Tod von Jesus am Kreuz. Dort bezeichnet ihnein römischer Hauptmann als den Sohn Gottes (Markus 15,39). Gleichzeitig betont das Markusevangelium, dass Jesus den Menschen Rettung bringt. Auch dieses wichtige Thema wird immer wieder aufgegriffen, wie in der Hauptaussage des Markusevangeliums: Jesus „ist gekommen, um anderen zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele Menschen“ (Markus 10,45). Das Markusevangelium erklärt also, warum der Sohn Gottes leiden und am Kreuz sterben musste. 

 

Der Blickwinkel des Lukasevangeliums 

Im Lukasevangelium möchte der Autor einen gut recherchierten historischen Bericht verfassen (Lukas 1,3). Das Hauptthema dieses Evangeliums ist die Rettung, die Jesus allen Arten von Menschen bringt – unabhängig von Geschlecht, sozialem Status oder Herkunft. Jesus „ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten“ (Lukas 19,10). Diese Rettung gilt allen Menschen (Lukas 2,29-32). Im Lukasevangelium hören die verschiedensten Menschen diese Nachricht der Rettung: ein römischer Soldat (Lukas 7,1-10), eine Witwe (Lukas 7,11-17), Zöllner, die ihre eigenen Landsleute verrieten (Lukas 7,29), eine Frau mit einer unmoralischen Vergangenheit (Lukas 7,36-50), von damaligen Juden verhasste Samariter (Lukas 9,51-54) und ein leidender „Ausländer“ (Lukas 8,26-39). Im Lukasevangelium sehen die Leser also die Fürsorge von Jesus für alle Menschen. 

 

Der Blickwinkel des Johannesevangeliums 

Das Johannesevangelium unterscheidet sich am meisten von den vier Evangelien. Etwa 93% der darin aufgeführten Erzählungen finden sich nicht in den drei anderen Evangelien. Der Autor möchte durch die Wunder von Jesus („Zeichen“ genannt) die Leser dazu einladen, an Jesus Christus als den Sohn Gottes zu glauben. Wer Jesus vertraut, der kann mit Gott leben (Johannes 20,31). Vom ersten Vers an unterstreicht das Johannesevangelium, dass Jesus Gott ist (Johannes 1,1). Die Wunder dienen dazu, die Gottheit von Jesus darzustellen: Sei es Wasser zu Wein zu verwandeln (Johannes 2,1-11), einen von Geburt an Blinden sehend zu machen (vgl. Johannes 9,1-41) oder einen Toten zum Leben aufzuerwecken (vgl. Johannes 11,1-45). Das Johannesevangelium unterstreicht unmissverständlich, dass Jesus Gott ist, der uns Menschen ewiges Leben bringt. Derjenige, der die Welt geschaffen hat, wurde Mensch und starb für uns am Kreuz. 

 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede 

Die Evangelien sind also historische Erzählungen, die Wahrheiten über Jesus kommunizieren möchten. Ähnlich wie bei antiken Biografien geht es in den Evangelien weniger darum, einen präzisen chronologischen Bericht über das Leben von Jesus zu verfassen. Stattdessen ordnen die Schreiber die verschiedenen Geschichten so an, dass sie den Lesern die Wahrheiten, die sie über Jesus hervorheben wollen, bestmöglich nahebringen.  

 

So beschreibt beispielsweise das Johannesevangelium die Kreuzigung von Jesus so, dass Jesus selbst sein Kreuz zu seiner Hinrichtungsstätte trug (Johannes 19,17). Die anderen drei Evangelien erzählen aber von einem Mann, der gezwungen wurde, für Jesus das Kreuz zu tragen (Matthäus 27,32; Markus 15,21; Lukas 23,26). Wusste der Autor des Johannesevangeliums es nicht besser? Oder versuchte er, seine Leser hinters Licht zu führen? Welche Version stimmt?  

 

Bei einem sorgfältigen Vergleich fällt auf, dass beide Erzählungen zusammen Sinn ergeben und einander ergänzen. Das Johannesevangelium betont die Gottheit von Jesus. Er ist Herr der Lage. Völlig souverän leitet Jesus seine Kreuzigung ein (Johannes 13,27) und verkündet im Sterben seinen Sieg (Johannes 19,30). Die anderen Evangelien hingegen betonen das Leiden von Jesus: Scheinbar ist er von der Folter, die der Kreuzigung vorausging, so geschwächt, dass er nicht einmal einen Balken für sein Kreuz tragen kann. Das Johannesevangelium „verschweigt“ diesen Teil. Damit will es niemanden hinters Licht führen. Es möchte nur nicht davon ablenken, dass Jesus sogar in seinem Sterben Herr der Lage war. Wahrscheinlich trug Jesus sein Kreuz einen Teil der Strecke und konnte dann vor Erschöpfung nicht mehr weiter. Durch die vier Evangelien bekommen wir ein vollständiges Bild der Kreuzigung von Jesus: Einerseits musste er schreckliche Leiden ertragen, aber gleichzeitig war er Herr der Lage. Beide Aspekte werden in den Evangelien unterschiedlich hervorgehoben. 

Die vier Evangelien sind also einzigartige Erzählungen derselben Geschichte. Jesus kam in diese Welt, um durch seinen Tod am Kreuz uns Menschen Leben mit Gott zu ermöglichen. Dieses Leben steht jedem offen, der sein Vertrauen auf Jesus setzt. 

 

 

Michael Kirchdorfer 

Interkulturelle Theologische Akademie 

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Geändert am: 16.02.2024

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