Warum gibt es unterschiedliche Erzählungen über Jesus Christus?

Kurze Antwort

Die unterschiedlichen Erzählungen über Jesus Christus in den Evangelien stellen Jesus aus unterschiedlichen Blickwinkeln dar. Kein Evangelium erhebt den Anspruch, jedes einzelne Detail aus dem Leben des Jesus von Nazaret zu schildern. Gemeinsam ergeben die Erzählungen ein vollständiges Bild von der Person und dem Leben von Jesus. Gemeinsam beantworten sie die Frage, warum Jesus und sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung die wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte sind.

In der Bibel gibt es vier Berichte über das Leben, den Tod und die Auferstehung von Jesus Christus. Diese vier sogenannten Evangelien deuten die Ereignisse zugleich geistlich (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes). Sie sind nicht identisch, sondern enthalten teilweise verschiedene Informationen. So ist beispielsweise nur im Evangelium von Matthäus die berühmte „Bergpredigt“ (Matthäus 57) von Jesus vollständig enthaltenDafür wird nur im Johannesevangelium erwähnt, dass Jesus Wasser in Wein verwandelte (Johannes 2,1-10). Warum weichen die Erzählungen voneinander ab? 

 

Die Evangelien erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven 

Zunächst muss festgehalten werden, dass die Evangelien nicht den Anspruch erheben, alle erdenklichen Informationen über Jesus Christus zu liefern. Die letzten Worte des Johannesevangeliums betonen das sogar: „Jesus hat aber noch viel mehr Taten vollbracht. Wenn alles einzeln aufgeschrieben werden sollte, so denke ich: Diese Welt könnte die Bücher nicht fassen, die dann geschrieben werden müssten.“ (Johannes 21,25) Die Evangelien sind keine Kameraaufnahmen, die jede Sekunde aus dem Leben des Jesus von Nazaret festgehalten haben. Selbst das würde nicht funktionieren, weil auch eine Kameraaufnahme nur eine begrenzte Perspektive hat! 

 

Keine ernstzunehmende Biografie der Welt erhebt den Anspruch, alle Details über das Leben einer Person zu erwähnen – wann eine Person eingeschult wurde, welche Farbe ihr Haus hatte, was sie an ihrem 50. Geburtstag als erstes sagte etc. Kein Wunder also, dass auch die vier Evangelien unterschiedliche Texte darstellen, die aus unterschiedlichen Perspektiven verfasst wurden, um damit unterschiedliche Ziele zu erreichen. 

 

So macht Lukas etwa von Anfang an deutlich, was das Ziel seines Evangeliums ist: „Schon viele haben es versucht, die Ereignisse im Zusammenhang aufzuschreiben, die Gott unter uns geschehen ließ – und zwar so, wie es uns von den Augenzeugen überliefert wurde. Die waren von Anfang an dabei und erhielten den Auftrag, das Wort zu verkünden. Auch ich bin all dem bis zu den Anfängen noch einmal sorgfältig nachgegangen. Dann habe ich mich dazu entschlossen, für dich, verehrter Theophilus, alles in der richtigen Reihenfolge aufzuschreiben. So kannst du dich davon überzeugen, wie zuverlässig die Lehre ist, in der du unterrichtet wurdest.“ (Lukas 1,1-4) Mit anderen Worten: Zu der Zeit, als das Evangelium verfasst wurde, gab es bereits andere schriftliche Berichte über Jesus – das nun ist ein Versuch, seiner Geschichte noch einmal sorgfältig auf den Grund zu gehen. 

 

Die Evangelien verfolgen unterschiedliche Absichten 

Auch wenn man die Stile der Evangelien vergleicht, wird deutlich, dass mit ihnen unterschiedliche Zwecke erreicht werden und verschiedene Zielgruppen angesprochen werden sollen. Das Matthäusevangelium ist etwa dafür bekannt, sehr ausdrücklich Bezug zu den jüdischen Heiligen Schriften (also zu dem, was wir heute als das Alte Testament bezeichnen) zu nehmen. Allein schon der Anfang („Das Buch vom Ursprung und der Geschichte von Jesus Christus, der ein Sohn Davids und ein Nachkomme Abrahams war“, Matthäus 1,1) macht klarDas Evangelium ist stark in Gottes Geschichte mit Abraham und seinen Nachkommen, dem Volk Israel, eingebettet. Daher auch die häufigen Erwähnungen der Erfüllung des Alten Testaments bei Matthäus, z.B. in 1,22: „Das alles geschah, damit in Erfüllung ging, was der Herr durch den Propheten gesagt hat.“ 

 

Im Markusevangelium muss man nicht lange lesen, dann wird Jesus schon vorgestelltSeine Taufe, Versuchung in der Wüste und die Berufung seiner ersten Nachfolger werden im Schnelldurchlauf erwähnt (Markus 1,1-20). Im Vergleich dazu ist der Anfang des Johannesevangeliums eine sehr bildhafte, fast schon gedichtartige Einführung, die den Leser einlädt, über wichtige Themen des Lebens – Gott, Leben, Licht, Welt etc. – nachzusinnen (Johannes 1,1-18). Es wird deutlich: Die Evangelien sollen in gegenseitiger Ergänzung gelesen und miteinander ins Gespräch gebracht werden, damit man eine klare Vorstellung davon erhält, wer Jesus Christus ist. Es ist, als ob vier Künstler mit unterschiedlichen Stilen das Leben von Jesus auf die Leinwand bringen: jeder mit seinem individuellen Stil, und dennoch geht es um das Gleiche. Das erklärt, warum manche Evangelien Ereignisse und Details weglassen, die in den anderen erwähnt werden. 

 

Was ist mit außerbiblischen „Evangelien“? 

Darüber hinaus gibt es auch Berichte über das Leben von Jesus, die nicht im Kanon der Bibel enthalten sind. Auch sie werden als „Evangelien“ bezeichnet. Der darin dargestellte Jesus weicht jedoch teilweise stark von dem in den vier kanonischen Evangelien ab. Das liegt daran, dass die anderen „Evangelien“ nachweislich aus einer deutlich späteren Zeit stammen als die vier kanonischen. Mit ihnen wollten bestimmte christliche Sondergruppen ihre Ansichten und Lehren rechtfertigenSie schrieben Jesus deshalb Taten und Aussagen zu, die sich teilweise schwer mit dem Rest des Neuen Testaments vereinbaren lassen. Das „Thomasevangelium“ etwa – das nicht einmal ein richtiges Evangelium, sondern eine Sammlung von abstrakten Sprüchen ist, die angeblich von Jesus stammen sollen – stammt aus dem 4. Jahrhundert und nicht, wie die vier Evangelien der Bibel, aus dem ersten. 

 

Wie erklären wir Spannungen innerhalb der biblischen Evangelien? 

Wie lassen sich jedoch Spannungen innerhalb der vier Evangelien des Neuen Testaments erklärenEtwa die Anzahl der Frauen am leeren Grab von Jesus oder manche Aussagen von Jesus, die scheinbar im Widerspruch zueinander stehen? Auch hier muss beachtet werden, dass die Evangelien aus vier Perspektiven geschrieben wurden. Würde man vier Augenzeugen eines Autounfalls befragen, würden sie zum Teil ganz andere Dinge erwähnen: Ein Autoliebhaber würde dem Auto mehr Aufmerksamkeit schenken, ein Arzt den Verletzungen etc. Das würde nicht bedeuten, dass einer der vier Augenzeugen „mehr Recht“ hätte als die anderen oder dass nur einer „die Wahrheit“ schildern würde. Stattdessen würde es sich um vier glaubwürdige und zuverlässige Berichte handeln (vorausgesetzt natürlich, die Augenzeugen sagen wirklich die Wahrheit), die sich gegenseitig gut ergänzen und aus denen sich ein rundes Gesamtbild ergibt. 

Ähnlich verhält es sich bei den Aussagen in den Evangelien, die beim oberflächlichen Lesen schwer miteinander zu vereinbaren scheinen. Geht man den Themen auf den Grund und achtet man auf den unmittelbaren Zusammenhang sowie die Gesamtaussage des jeweiligen Evangeliums, lassen sich solche scheinbaren „Widersprüche“ sehr häufig gut harmonisieren. Und diese Vielfalt ergibt ein vollständiges Bild davon, wer Jesus Christus wirklich war und warum sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung die wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte sind. 

 

 

Alexander Dalinger    

Bibelschule Brake (https://www.bibelschule-brake.de/)   

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Geändert am: 26.02.2024

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