In allen Kulturen werden Geschichten erzählt. Sie vermitteln allgemeine Weisheiten oder erzählen von vorbildlichem Verhalten. Auch Jesus nutzte Geschichten, um anschaulich zu machen, was er lehren wollte. Vor allem Gottes Wesen und seine Welt beschrieb er durch Erzählungen, die sich im Alltag seiner Zeit ereignen konnten. Jesus konnte so anschaulich erzählen, dass seine Zuhörer Teil des Geschehens wurden. Jesus wollte damit einladen, über Gottes Barmherzigkeit zu staunen und ihm zu vertrauen.
Jesus, ein meisterhafter Erzähler
Jesus war nicht der erste, aber ein meisterhafter Erzähler. Geschichten zu erzählen, ist in jeder Kultur ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu gewinnen und um einprägsam Weisheiten zu vermitteln. So finden sich im Neuen Testament fast 40 kürzere oder längere Geschichten, die Jesus erzählte. Manchmal sind sie in den Evangelien in ganzen Kapiteln zusammengefasst (z. B. in Markus 4, Lukas 15 oder Matthäus 13), manchmal sind sie in längere Redeabschnitte eingestreut. Immer wieder leitet Jesus die Erzählung mit dem Hinweis ein: „Mit dem Reich Gottes ist es wie ...“ (Markus 4,26). Dadurch wird deutlich, dass sich die Geschichte wohl in dieser Welt ereignet, aber eine Wahrheit über Gottes Welt beschreibt. Es gibt aber auch Situationen, bei denen Jesus mit Menschen z. B. beim Essen sitzt und durch eine Beispielgeschichte erklärt, was er als Wahrheit über Gott lehren will. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Geschichte vom Verlorenen Sohn. Mit ihr erklärt Jesus, wie gerne Gott vergibt (Lukas 15,11-24).
Alltägliche Beispiele
Der Stoff, aus dem die Erzählungen gemacht sind, stammen aus dem Leben der Menschen und ihrer Arbeitswelt. Sie beschreiben die damaligen Rechtsverhältnisse und Berufsgruppen. Sie berühren Themen, die problematisch sein können wie das Verhältnis zwischen einem Vater und seinen Söhnen oder zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie benennen Streit und Versöhnung, die Spannung zwischen Reichen und Armen, zwischen Angesehenen und Verachteten, eine erfolgreiche Arbeit, aber auch Verlust und Misserfolg. Indem Jesus die alltäglichen Bilder wählt, zeigt er, wie ernst Gott das Leben der Menschen nimmt und wie nahe er ihnen ist.
Einladung, Gott zu vertrauen
Damit lädt er ein, Gott völlig zu vertrauen. Denn Gottes Welt ist nicht weit weg. Alles, was wir sehen, kann zu einem Beispiel für ihn werden. Gott zeigt sich nicht nur in der Welt der Tempel und zu heiligen Zeiten, sondern im Alltag, im Trubel einer Familie und unter der Last der Arbeit. Deshalb ist auch das Vertrauen, das sich Jesus für seine Anhänger wünscht, im Alltag möglich. Sorge z. B. bereiten uns Essen, Trinken, Kleider und Schuhe. Aber gerade dafür gilt: „Euer Vater im Himmel weiß doch, dass ihr das alles braucht.“ (Matthäus 6,32) Wenn Jesus also Geschichten erzählt, vermittelt er nicht nur allgemeine Weisheiten, sondern macht die große Einladung Gottes anschaulich. Es wäre seine größte Freude, wenn wir wagten, uns ihm anzuvertrauen.
Überraschungseffekte
Doch Jesus erzählt auch Geschichten, die aufrütteln. Denn der Gott, den er beschreibt, ist barmherziger, als der Gerechtigkeitssinn seiner Hörer es erlaubt. Im Gleichnis vom Verlorenen Sohn greift Jesus diesen Widerstand direkt auf. Der ältere Bruder tritt dem Vater empört entgegen (Lukas 15, 25-32).
Jesus mahnt, klug und wachsam zu sein. Denn jeder Mensch wird einmal für sein Leben vor Gott Rechenschaft ablegen. Gott hat uns Reichtum und Gaben geschenkt, uns Menschen und Aufgaben anvertraut – und er wird uns fragen, was wir daraus gemacht haben. Es ist deshalb gut, heute schon treu und verlässlich zu sein.
Um Antwort wird gebeten
Um seine Zuhörer zu überzeugen, bedient sich Jesus eines besonderen Stilmittels. Er beschreibt eine Situation und beendet sie mit einer Aussage oder Frage, auf die es eigentlich nur eine richtige Antwort gibt. So vergleicht er z. B. seine Jünger mit einem Licht, das in einer dunklen Welt leuchtet. Sie sollen sich nicht anpassen, sondern so weltverändernd denken und leben wie Jesus selbst. Das ist ihre Aufgabe als Licht, denn: „Es zündet ja auch niemand eine Öllampe an und stellt sie dann unter einen Tontopf. Im Gegenteil: Man stellt sie auf den Lampenständer, damit sie allen im Haus Licht gibt.“ (Matthäus 5,15) Jeder, der dem Bildwort bis dahin gefolgt ist, kann nur zustimmen und Jesus Recht geben.
Maike Sachs
Pfarrerin und Studienleiterin am Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen (www.bengelhaus.de)