Was ist Wahrheit für Jesus Christus?

Kurze Antwort

Für Jesus Christus ist Wahrheit nicht relativ oder diskutierbar. Vielmehr ist sie klar und eindeutig. Er sagte über sich selbst: „Ich bin [...] die Wahrheit“ (Johannes 14,6). Diese Wahrheit übersteigt menschliches Wissen und wissenschaftliche Objektivität. Sie fordert jeden Menschen heraus, sich zu entscheiden, ob er Jesus glaubt oder nicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass unsere persönlichen Glaubensüberzeugungen ebenso absolut wahr sind.

Die bekannte Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit“ (Johannes 18,38) scheint aktueller denn je. Immer schwerer erscheint es, unter den verschiedenen Informationsquellen aus dem Internet, der Presse, den Medien das herauszufinden, was der Wahrheit entspricht. Eindimensionale Schlagwörter wie „fake news“, „postfaktisch“ oder „Lügenpresse“ erschüttern das Vertrauen der Leser – was kann man denn noch glauben? Welcher Informationsquelle kann ich hundertprozentig vertrauen? Auch im geistlichen Bereich scheint die Frage nach der Wahrheit immer schwieriger zu werden. Kann man denn überhaupt noch klare biblische Aussagen treffen? Ist eine Auseinandersetzung um die Wahrheit denn noch zeitgemäß? Jeder Christ hat doch seine eigene Wahrheit – durchaus biblisch begründet! Wer bin ich, dass ich dir deine persönliche Glaubenswahrheit bestreite? Gerade auch in kirchenpolitischen Fragen geht es nicht immer um das Ringen nach der (biblischen) Wahrheit und deren Umsetzung, sondern um ein möglichst friedliches Nebeneinander sich widersprechender Überzeugungen.

 

Wahrheit und Objektivität

In der Geschichtswissenschaft wird grundsätzlich zwischen Objektivität und Wahrheit unterschieden. Eine wissenschaftliche Aussage muss dem Kriterium der Objektivität entsprechen, d. h. es müssen möglichst alle verfügbaren Quellen zusammengetragen und unter Absehung der eigenen Voreingenommenheit gesichtet, bewertet und dargestellt werden. Dadurch entsteht ein wissenschaftlicher Beitrag zu einem historischen Zusammenhang, der sich nun der wissenschaftlichen Diskussion stellen muss. Andere Forscher bringen günstigenfalls neue Quellen ans Tageslicht, die die Aussage bekräftigen, ergänzen oder verwerfen. Diese wissenschaftliche Diskussion sollte möglichst vorurteilsfrei und auch herrschaftsfrei sein: Der jeweilige Forscher sollte sich also zum einen seiner Vorprägung bewusst sein und diese offenlegen, sei diese theologisch, biographisch, politisch oder regional begründet. Zum anderen sollte sein Beitrag ohne irgendwelche für den Leser unerkennbaren finanziellen, persönlichen, familiären oder (kirchen-) politischen Abhängigkeiten erfolgen. Doch wie steht eine solche wissenschaftliche Diskussion im Verhältnis zu dem Begriff der „Wahrheit“? Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht lässt sich dazu sagen, dass eine wissenschaftliche Diskussion, die der Objektivität verpflichtet ist, nie zur vollständigen Erkenntnis der „Wahrheit“ führen kann. Sie kann der „Wahrheit“ – oder historisch gesprochen: dem Ereignis, das es darzustellen gilt – nur in verschiedener Hinsicht näherkommen, mit ihr aber nie in Gänze übereinstimmen. Von daher muss sich der einzelne Forscher immer der Vorläufigkeit seiner Ergebnisse bewusst sein. Würde man hingegen Objektivität und Wahrheit bzw. die eigene wissenschaftliche Erkenntnis mit der Wahrheit gleichsetzen, müsste man alle Forschungen, die zu abweichenden Ergebnissen führen als „falsch“ bezeichnen. Damit würde allerdings eine Diskussion unmöglich gemacht werden und das Feld der Wissenschaft zugunsten der Ideologie verlassen. Wissenschaftliche oder objektive Argumente könnten dann kein Gehör mehr finden, die eigene Meinung müsste ja als „Wahrheit“ mit anderen Mitteln durchgesetzt werden. Die Diskussion verließe somit den Bereich der Objektivität und würde schnell moralisch aufgeladen, d. h.: wer nicht meine Meinung hat (die ja für mich mit der Wahrheit übereinstimmt), muss nicht mehr durch Argumente überzeugt werden, sondern ist als Leugner der Wahrheit seiner Lüge zu überführen und damit als moralisch schlechter Mensch zu entlarven. Damit käme es zu einer Spaltung der Diskussionsteilnehmer in Bekenner der Wahrheit und Leugner derselben. Wozu eine solche (bewusste) Abkehr von dieser Unterscheidung zwischen Objektivität und Wahrheit führen kann, konnte man insbesondere im zurückliegenden Jahrhundert in der Ausbildung von Unrechtssystemen verschiedener politischer Ausrichtungen sehen. So ist es z. B. bezeichnend, dass der Name der von Lenin bereits 1912 aus dem Exil gegründeten und in der späteren Sowjetunion als Propagandaorgan der kommunistischen Partei dienenden russischen Zeitung „Prawda“ [zu deutsch: „Wahrheit“] hieß.

 

Jesus ist die Wahrheit – ein Wechsel der Perspektive

Die Frage des Pilatus entspricht diesem wissenschaftlichen Ansatz. Angesichts vieler selbsternannter Heilsbringer, angesichts der vielfältigen Ideologien und Weltanschauungen wird er zum Skeptiker. Seine Frage ist eine rhetorische Frage – er will damit sagen: Betrachtet man die vielen widersprüchlichen Meinungen, dann kann es doch gar keine Wahrheit geben. Jesu Anspruch jedoch ändert die Perspektive auf die Frage nach der Wahrheit: nicht der Mensch beurteilt, was Wahrheit ist, sondern er selbst wird durch die Wahrheit beurteilt. Jesus erhebt den Anspruch: „Ich bin […] die Wahrheit“ (Johannes 14,6) und „  Jeder, der selbst von der Wahrheit ergriffen ist, hört auf das, was ich sage.“ (Johannes 18,37). Hier geht es nicht um eine objektive Abwägung verschiedener Perspektiven, sondern um die Entscheidung: Will ich dieser Wahrheit, Jesus, seinem göttlichen Wort, vertrauen oder nicht? Hier geht es nicht um eine objektive Abwägung, um eine Diskussion verschiedener Sichtweisen, sondern um das Bekenntnis zur Wahrheit in Jesus Christus, die an uns in Anspruch und Zuspruch ergeht. Diese Wahrheit ist größer als menschliche Wissenschaft und Objektivität – sie spricht die Wahrheit aus über mich, jenseits aller menschlich sichtbaren und wissenschaftlich erhebbaren Fakten. Diese Wahrheit übersteigt als Offenbarung Gottes das menschliche Fassungsvermögen und kann auch durchaus als widersprüchlich wahrgenommen werden. Martin Luther sieht gerade in dieser (für menschliches Denken) Widersprüchlichkeit das Wesen der göttlichen Offenbarung, wenn er in seiner Streitschrift „De servo arbitrio“ („vom unfreien Willen“) von 1520 feststellt: „Damit also dem Glauben Raum gegeben wird, ist es nötig, dass alles, was geglaubt wird, verborgen wird. es ist aber nichts tiefer verborgen, als [wenn es] unter dem gegenteiligen Gegenstand, der gegenteiligen Sinneswahrnehmung und Erfahrung [verborgen wird]. Und so handelt Gott: Wenn er lebendig macht, tut er dies, indem er tötet; wenn er rechtfertigt, tut er dies, indem er schuldig spricht; wenn er in den Himmel führt, tut er dies, indem er in die Hölle hinabführt, wie die Schrift sagt: ‚Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Hölle und aus ihr heraus‘ (1. Samuel 2,6).“ Es ist daher nach Luther nicht angemessen, der in Jesus Christus offenbarten und in der heiligen Schrift bezeugten göttlichen Wahrheit mit (wissenschaftlicher) Skepsis zu begegnen. Erasmus von Rotterdam, der im Hinblick auf eine „biblische Wahrheit“ vorsichtiger und abwägender argumentieren wollte, indem er immer wieder auf die Widersprüchlichkeit einzelner biblischer Aussagen hinwies, begegnete Luther mit seinem schroffen Urteil „der Heilige Geist ist kein Skeptiker.“

 

Der Christ zwischen Objektivität und Wahrheit

Für uns Christen gilt es auf der einen Seite, diese göttliche Wahrheit über unser Leben zu hören und Jesus Christus als „Gottes kräftige[n] anspruch auf unser ganzes Leben“ (Zweite These der Barmer theologischen erklärung von 1934, eG, s. 1507) gelten zu lassen. Auf der anderen Seite müssen wir uns immer wieder klarmachen, dass unser Wissen und unsere Erkenntnis stückwerk ist (1. Korinther 13,9). Das gilt auch und insbesondere für unsere theologische Einsicht. Jesus Christus ist die Wahrheit – das bedeutet nicht, dass ich meine theologische Überzeugung absolut setzen darf. Hier gilt es sowohl im Sinne der (wissenschaftlichen) Objektivität und auch dem Hören auf Gottes Wort offen zu bleiben für Korrektur auf dem Boden der Heiligen Schrift. Ob in persönlichem, politischen oder im geistlichen Kontext sollten wir Christen immer unterscheiden zwischen der (göttlichen) Wahrheit und dem menschlichen Versuch, dieser Wahrheit möglichst nahe zu kommen, um nicht für Ideologien oder geistliche Abhängigkeiten anfällig zu werden. Im Sinne des Priestertums aller Gläubigen ist es deshalb an jedem einzelnen von uns, durch fortwährendes gründliches Studium der Heiligen Schrift immer mehr in Gottes Wort zuhause zu sein, um alles zu prüfen und das Gute zu behalten (1. Thessalonicher 5,21). Wenn wir Rechenschaft über unseren Glauben ablegen (1. Petrus 3,15), sollten wir dies immer im Bewusstsein zweier Pole tun: Zum einen im Wissen, dass wir Gottes Wahrheit bezeugen und nicht bezweifeln sollen und dass uns der Heilige Geist in der Bezeugung der Wahrheit leiten will (Johannes 16,13). Zum anderen in einer Haltung der Demut, dass unsere eigene (menschliche) Erkenntnis nur vorläufig und vielleicht auch fehlerhaft und korrekturbedürftig ist. In diesem Spannungsfeld gilt es, nicht wie Pilatus oder Erasmus zum Skeptiker zu werden, der sich scheut, klare (biblische) Positionen zu beziehen, sondern mutig und entschlossen die erkannte biblische Wahrheit zu bezeugen – dies aber immer im Bewusstsein der eigenen Vorläufigkeit und Begrenztheit.

 

 

Dr. Jörg Breitschwerdt
Albrecht-Bengel-Haus (https://www.bengelhaus.de/)

(Erschien ursprünglich in Theologische Orientierung Nr. 192, S. 24-26 mit dem Titel "Was ist Wahrheit?")

Informationen
Geändert am: 14.08.2024

Deine Antworten