Auf Darstellungen von Jesus am Kreuz liest man häufig die Beschriftung „I.N.R.I.”.
Diese Buchstaben stehen für die lateinischen Wörter: I[esus] N[azarenus] R[ex] I[udaeorum]. Übersetzt bedeutet das: „Jesus von Nazareth, [der] König der Juden“. Laut dem Neuen Testament wurde am Kreuz von Jesus ein Schild angebracht, auf dem eine Aufschrift in drei Sprachen zu lesen war (Johannes 19,19-20). Diese Aufschrift sollte darauf hinweisen, für welches Verbrechen Jesus am Kreuz starb.
Wo berichtet das NT über diese Inschrift vom Kreuz?
Alle vier Evangelien berichten über eine Inschrift oder Aufschrift, die am Kreuz angebracht worden ist.
Matthäus 27,37: „Über seinem Kopf brachten sie ein Schild an. Darauf stand der Grund für seine Verurteilung: »Das ist Jesus, der König der Juden«.“
Markus 15,26: „Auf einem Schild stand der Grund für seine Verurteilung: »Der König der Juden«.“
Lukas 23,38: Über Jesus war ein Schild angebracht: »Das ist der König der Juden.«“
Johannes 19,19-20: „Pilatus ließ ein Schild oben am Kreuz anbringen, auf dem geschrieben stand: »Jesus der Nazoräer, der König der Juden.«. […] Die Inschrift war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache abgefasst.“
Was berichtet das NT über diese Inschrift?
Aus dem, was die vier Evangelien berichten, lässt sich folgendes rekonstruieren:
- Auf Veranlassung des römischen Stadthalters Pontius Pilatus (Johannes 19,19)
- wurde am Kreuz (s. Johannes19,19), und zwar über dem Kopf von Jesus (s. Matthäus 27,37; Lukas 23,38),
- ein Schild bzw. eine Tafel mit einer „Aufschrift“ (s. Markus 15,26; Lukas 23,38; Johannes 19,19)
- in Hebräisch, Latein und Griechisch angebracht (Johannes 19,20),
- um anzugeben, für welches Verbrechen er zum Tod am Kreuz verurteilt wurde (s. Matthäus 27,37; Markus 15,26).
- Die Worte „Der König der Juden“ klingen allerdings mehr wie eine zutreffende Aussage über Jesus selbst als ein Verbrechen, das den Tod verdient (s. Matthäus 27,37; Markus 15,26; Lukas 23,38; Johannes 19,19).
Was bedeutete der Anspruch, „König der Juden“ zu sein, im römischen Imperium zur Zeit Jesu?
Damals galt das sogenannte „Majestätsgesetz“ (lateinisch: lex Iulia de maiestate) von Kaiser Augustus. Demnach war es im römischen Reich verboten, sich ohne Genehmigung des Kaisers „König“ zu nennen. Im Jahr 4 v. Chr. starb der damalige jüdische König Herodes der Große. Doch selbst seine Söhne Antipas, Archelaos und Philippus durften danach nicht mehr wie ihr Vater als „König der Juden“ auftreten.
Wer in den römischen Provinzen unerlaubt den Anspruch erhob, „König“ zu sein, galt als Rebell gegen das römische Regime. Er verletzte die Majestät des Kaisers höchstpersönlich. Tiberius, der Stiefsohn und Nachfolger von Augustus (14 n.Chr.–37 n.Chr.), wurde für diese Majestätsbeleidigung (lateinisch: crimen laesae maiestatis) als Hochverrat mit dem Tod bestraft (vgl. Sueton, Tiberius, 58.61; Tacitus, Ann 2,50; 3,38).
In seiner Geschichte des jüdischen Krieges erzählt der jüdische Historiker Flavius Josephus von ähnlichen Kreuzigungen. So ließ der Feldherr Varus um 6 n. Chr. Rebellen, die sich selbst zum König ernannt hatten, kreuzigen (vgl. Josephus, Bell 2,75).
Außerdem berichtet Josephus auch an anderer Stelle von Aufrührern, die sich selbst den Königstitel anmaßten. So haben sich z. B. ein gewisser Simon und ein gewisser Athronges eigenmächtig zum König ernannt (vgl. Josephus, Ant 17, 273-276.278-285). Jedoch fügten diese Aufrührer laut Josephus durch ihre Raub- und Beutezüge vor allem ihren eigenen Landsleuten Schaden zu und nicht in erster Linie den Römern.
Wie ist die Inschrift zu verstehen und zu deuten?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, was Pontius Pilatus mit der Aufschrift aussagen wollte.
- Dieser Jesus ist ein Aufrührer. Er macht sich selbst zum König und beleidigt damit den Kaiser. Damit verdient er nach römischem Recht den Tod.
Der geschichtliche Kontext lässt diese Auslegung plausibel erscheinen. Die führenden Juden, die beim Prozess von Jesus dabei waren, versuchten Pilatus auch in diese Richtung zu drängen. Laut dem Lukasevangelium stellten sie Jesus als hochverräterischen Staatsfeind der Römer hin: „Wir haben festgestellt“, sagten sie, „dass dieser Mann unser Volk aufwiegelt; er hält die Leute davon ab, dem Kaiser Steuern zu zahlen, und behauptet, er sei der Messias und König“ (Lukas 23,2; Neue Genfer Übersetzung). Auch laut dem Johannesevangelium drängten sie mit dem Argument des Hochverrats auf die Kreuzigung von Jesus: „Daraufhin wollte Pilatus Jesus freilassen. Aber die Wortführer der Juden schrien: »Wenn du ihn freigibst, bist du kein Freund des Kaisers. Wer sich selbst als König ausgibt, stellt sich gegen den Kaiser!«“ (Johannes 19,12) Es gibt jedoch auch einige Schwierigkeiten mit dieser Deutung:- Der Unterschied zwischen Jesus und anderen Aufrührern wie Barabbas (vgl. Lukas 23,19.25) muss auch Pilatus aufgefallen sein. Zum Passahfest sollte wie üblich ein Gefangener freigelassen werden. Pilatus schien zu erwarten, dass das Volk Jesus wählte (vgl. Markus 15,9). Auch im Verhör konnte Pilatus keine strafwürdige Schuld bei Jesus feststellen. Er schickte ihn zu Herodes Antipas. Aber auch Herodes kannte Jesus nicht als Aufrührer. Im Gegenteil, Herodes kannte Jesus von Gerüchten als Wundertäter. Er hoffte, ein Wunder live zu erleben. Aber Jesus schwieg nur und tat kein Wunder vor seinen Augen. Deshalb reagierten Herodes und seine Soldaten mit Verachtung und Spott (vgl. Lukas 23,8-12). Jesus hat in den Augen von Herodes noch nicht einmal bewiesen, dass er dieser mächtige Wundertäter war, von dem er gehört hatte. Warum also sollte er ein gefährlicher Aufrührer sein und sich selbst zum König ernannt haben?
- Jesus bestand vor Pilatus nicht auf den Königstitel. Auf die Nachfrage von Pilatus, ob er der König der Juden sei, antwortete Jesus: „Du sagst es“ (Markus 15,2; Matthäus 27,11; Lukas 23,3). Jesus antwortete hier nicht so klar wie im Verhör durch den Hohepriester (Markus 14,62). Dort fragte ihn der Hohepriester, ob er der Messias sei, und Jesus antwortete: „Ich bin es“. Sprachlich und vom Kontext her gesehen bejahte Jesus auch die Frage von Pilatus. Seine Antwort könnte allerdings zurückhaltender gemeint sein, etwa wie: „Wenn Sie so wollen“. Das legt zumindest die Rückfrage von Jesus nahe, von der im Johannesevangelium berichtet wird: „Fragst du das von dir aus oder haben andere dir das über mich gesagt?“ (Johannes 18,34).
Außerdem erklärte Jesus Pilatus ausführlich, wie sein Königtum zu verstehen war: Als König wollte er die Wahrheit bezeugen. Diese Wahrheit war ihm so wichtig, dass er dafür den Tod in Kauf nahm. Sein Reich war außerdem „nicht von dieser Welt“. Es drehte sich nicht um irdische Machtansprüche. Sondern um die Frage, ob Jesus der angekündigte Messias war oder nicht. - Im Judentum wurde der Messias als endzeitlicher König erwartet, als Nachfahre des großen König David. Deshalb bejahte Jesus vor dem Hohen Rat die Frage, ob er der Messias/Christus sei. Die Hohenpriester und andere Ratsmitglieder drehten diesen religiös-messianischen Königsanspruch von Jesus vor Pilatus dann ins Politische. Pilatus wollte zwar von den jüdischen Messias-Erwartungen nichts wissen. Doch er musste bei der Anklage, Jesus sei ein (politischer) König, reagieren.
- Am Ende wollte Pilatus Jesus nicht wegen der Behauptung, König zu sein, zum Tode verurteilen. Zumal er wusste, dass man ihm Jesus aus Neid ausgeliefert hatte (s. Matthäus 27,18). Die Obersten der Juden wollten sich ihren Einfluss und ihr Ansehen beim Volk nicht streitig machen lassen. Dennoch ließ er sich erpressen und sprach das Todesurteil über Jesus aus (vgl. Johannes 19,12).
- In keiner historischen Quelle außer den Evangelien wird von einer Aufschrift an einem Kreuz berichtet. Vielleicht war es auch eine einmalige Angelegenheit. Die wenigen römischen Quellen berichten nur von dem Brauch, den Verurteilten eine Tafel umzuhängen oder vor ihnen herzutragen. Damit sollten sie öffentlich gedemütigt und verspottet werden. Aus Sicht der Römer konnte die Aufschrift also auch einfach die Verhöhnung eines Möchtegern-Königs bedeuten.
- Doch aus Sicht der Juden und als Offenbarung Gottes konnte sie auch einfach die Wahrheit über Jesus aussagen. Pilatus tat den jüdischen Führern nicht den Gefallen, Jesus als falschen Messias hinzustellen und seinen Anspruch als Selbstanmaßung zu bezeichnen. Er hielt daran fest, Jesus öffentlich als „König der Juden“ zu proklamieren, und stellte klar: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“ (s. Johannes 19,20-22). So starb Jesus amtlich bezeugt durch die von Pilatus veranlasste Aufschriftals „König der Juden“.
Der Apostel Paulus schrieb im Brief an die Gemeinde in Korinth folgendes: „Die Botschaft vom Kreuz erscheint denen, die verloren gehen, als eine Dummheit. Aber wir, die gerettet werden, erfahren sie als Kraft Gottes.“ (1. Korinther 1,18). Jesus, der Sohn Gottes, starb am Kreuz. Heute wie damals muss man sich entscheiden, zu welchen Menschen man gehören möchte: zu denen, die nur Spott und Verachtung für ihn übrighaben. Oder zu denen, die von ihm und mit ihm einen Neuanfang erwarten.
Benjamin Mass