Einer der großen „Israeltexte“ der Bibel ist 5. Mose 7,6-8. Dort wird über Israel gesagt: „Der Herr, dein Gott, hat dich erwählt.“ Israel ist Gottes Volk, weil Gott es erwählt hat. Unter all den Völkern fiel seine Wahl auf dieses eine Volk: Israel. So wurde Israel zu Gottes „Eigentumsvolk“.
Der Bibeltext aus 5. Mose 7,6-8 ist so bedeutungsvoll, dass er hier zunächst komplett zitiert werden soll:
„Du, Israel, bist ein besonderes Volk, du bist heilig für den HERRN, deinen Gott. Der HERR, dein Gott, hat dich erwählt: Als einziges Volk unter allen Völkern der Erde sollst du ihm gehören. Nicht weil ihr zahlreicher seid als alle Völker, empfindet der HERR Zuneigung zu euch. […] Sondern aus Liebe zu euch hat der HERR es getan. Er hält sich an den Eid, den er euren Vorfahren geschworen hat.“
Gott hat Israel erwählt. Das macht Israel so besonders. Zunächst stutzt man beim Lesen: Warum ausgerechnet Israel? Warum nicht irgendein anderes Volk? Der Grund liegt nicht darin, dass Israel zahlreicher (oder besser, freundlicher, kreativer, schöner usw.) wäre. Dass Gott Israel erwählt hat, liegt nicht an Israel. Es liegt an Gott. Zwei Gründe werden genannt, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Gott hat Israel erwählt, weil er es liebt und weil er seinen Eid an die Vorfahren (Israels Urväter) hielt.
Beginnen wir mit der Liebe. Es war eine Regung des Herzens, die Gott zu Israel gezogen hat. Scheinbar hat sich Gott, um es vereinfacht zu sagen, in dieses kleine Völkchen „verliebt“. So etwas kann man nicht erklären und muss es auch nicht. Es findet einfach statt und führte in diesem Fall zur Erwählung Israels. Gott ist also mit ganzem Herzen bei Israel, seine Erwählung ist von seinem Innersten getragen und hat eine tief emotionale Seite. Das sieht man auch an Stellen, wo Gott Israel als seine „Ehefrau“ bezeichnet (z. B. in Hosea 2,4+18; Hesekiel 16,8). Oder in Sacharja 2,12, wo Israel Gottes „Augapfel“ genannt wird.
Das andere ist der Eid an die Väter. Gott hat den Stammvätern Israels gegenüber einen Schwur geleistet bzw. einen Bund mit ihnen geschlossen. Das fängt schon bei Abraham an (1. Mose 12,1-3). Gott versprach Abraham, dass er ein Land bekommen und dass aus ihm ein Volk hervorgehen sollte. Volk plus Land ergibt eine Nation. Diese Nation wiederum sollte zum Segen für die gesamte Menschheit werden. Das versprach Gott dem Abraham frei in die Hand. Dieser Eid (oft Abrahambund genannt) wurde später weitergereicht. Er wanderte über Isaak zu Jakob und mündete ein in das Volk Israel (1. Mose 17; 26; 28; 35). Israel ist dieses Volk, das das versprochene Land besitzen und zum Segen der Welt werden soll. Das hat Gott versprochen, also hält er es auch.
Gott hat Israel aus Liebe erwählt. Dahinter steht sein Herz, nicht nur das kalte Einhalten eines Versprechens. Umgekehrt gilt aber auch: Gott hält sein Versprechen an die Väter, an Abraham, Isaak und Jakob. Dahinter steht sein Wort, nicht nur eine Emotion, die kommen und gehen kann. Beides zusammen, Liebe und Eid, Herz und Wort, führt zur Erwählung Israels. So ist Gott!
Christen haben oft gefragt, ob das jüdische Volk bis zum heutigen Tag erwählt ist. Das ist tatsächlich der Fall. Selbst nach der „Christus-Krise“ – als das Volk Israel Jesus abgelehnt hat – bleibt Gott seinem Volk treu und hält an seiner Erwählung fest. Das kann man gut an Römer 11,28 sehen: „Betrachtet man es von der Guten Nachricht her, dann sind sie Feinde geworden. […] Betrachtet man es aber von daher, dass Gott sie erwählt hat, dann bleiben sie von Gott geliebt.“
Der Apostel Paulus schreibt an dieser Stelle aus zwei unterschiedlichen Perspektiven über Israel. Es ist, als würde er zwei verschiedene Brillen nutzen. Wenn er durch die Evangeliumsbrille schaut, dann sieht er in Israel viele „Feinde“: Juden, die Jesus und die gute Nachricht ablehnen. Das hat Paulus selbst erlebt und das hat ihm viel Schmerz zugefügt (Römer 9,1-2). Wenn Paulus aber durch die Erwählungsbrille schaut, kommt er zu einem ganz anderen Ergebnis. Dann sieht er, dass die Juden noch immer Gottes geliebtes Volk sind. Das heißt: Obwohl viele Juden Jesus ablehnen, bleibt die Erwählung bestehen. Die Juden sind und bleiben erwählt und geliebt. Daran ändert sich nichts. Wie erstaunlich!
Viele Christen irritiert das. Sie fragen: „Wie kann das sein?“ Die Antwort ist einfach: Weil Gott treu ist. Im Neuen Testament wird von Gott gesagt: „Aber wenn wir treulos sind, bleibt er trotzdem treu. Denn er kann nicht sich selbst untreu werden“ (2. Timotheus 2,13). Gott bleibt auch angesichts menschlicher Untreue treu. Weil er treu ist. Auf Israel angewandt bedeutet dies, dass Gott trotz aller Schwierigkeiten, die er mit diesem Volk hatte und hat, ihm immer treu bleiben wird.
An dieser Stelle hat sich die Christenheit ein großes Problem eingehandelt. Über viele Jahrhunderte hat man diese biblischen Zusammenhänge nicht gesehen oder ignoriert. Die sog. „Ersatztheologie“ hat sich eingeschlichen und wurde zur Mainstream-Theologie im Hinblick auf Israel. Die Ersatztheologie besagt: „Gott hat mit Israel Schluss gemacht und hat es durch die Gemeinde Jesu ersetzt. Jetzt sind wir Christen dran!“ Für die Juden hatte das fatale Folgen. Denn im Mittelalter sah man sie nicht nur als „verworfen“ an, sondern man hat sie zugleich verfolgt, vertrieben, geschändet und ermordet – und all das „im Namen Jesu“. Mit diesem „verworfenen Volk“, den „Christusmördern“, durfte man, so die Meinung, verfahren, wie man wollte, und so hat man Bosheit und Hass an ihnen ausgelassen.
Ersatztheologie und Judenfeindschaft haben dazu geführt, dass sich das Volk der Juden von Jesus und allem Christlichen ferngehalten hat. Sie haben aber auch Auswirkungen auf uns Christen: Wer an die Ersatztheologie glaubt, der glaubt im tiefsten Inneren an einen untreuen Gott. An einen Gott, der seine Erwählten aufgibt und durch andere ersetzt. Das Gift der Ersatztheologie schadet nicht nur den Juden – es schadet auch uns Christen. Es zersetzt den Glauben. Deshalb ist es doppelt wichtig, sie ein für allemal auszuräumen. Gott ist treu! Sowohl zu uns Christen als auch zu den Juden. Das ist die biblische Wahrheit.
Gottes Treue führte schon in alter Zeit dazu, dass er Israel die allergrößten Versprechen mit auf den Weg gab. Gott versprach Israel eine grandiose Wiederherstellung: eine Rückkehr ins Land der Bibel und eine innere Erneuerung der Herzen am Ende der Tage. Diese Versprechen gelten kollektiv ganz Israel (z. B. Jeremia 30–33; Hesekiel 36–39). Noch weiter ging Paulus mit der großen Zusage, dass „ganz Israel gerettet werden“ wird (Römer 11,26). Ganz Israel, nicht nur ein Teil. Es werden also nicht nur die Christen gerettet, sondern auch die Juden. Das ist der Höhepunkt der Versprechen Gottes an Israel. Daran wird deutlich: Gott meint es ernst mit der Erwählung Israels und hält sie bis zum Schluss durch. Israel wird nicht auf der Strecke bleiben, sondern ans Ziel kommen, und mit der Gemeinde Jesu zusammen die Ewigkeit verbringen. Was für eine Perspektive!
Dr. theol. Tobias Krämer
Christen an der Seite Israels e.V.
