Wann kommt das Reich Gottes?

Kurze Antwort

Jesus sagte, dass das Reich Gottes unter uns ist, weil es mit seinem Wirken auf der Erde begonnen hat. Es zeigt sich nicht durch äußere Zeichen, sondern durch Jesus selbst und das Wirken des Heiligen Geistes. 

Jesus sprach oft in Gleichnissen über das Reich Gottes. Sie machen deutlich: Das Reich Gottes ist dort, wo Jesus ist. Es wächst langsam und wird in der Zukunft seine wunderbare Schönheit und Herrlichkeit entfalten. 

Wann kommt das Reich Gottes? In dieser Frage steckt eine große Sehnsucht. Wann endlich zeigt der allmächtige Gott sich in seiner ganzen Schönheit und Herrlichkeit, so dass ihn niemand mehr übersehen kann? Wann endlich wird der Friede sein, der denjenigen versprochen ist, die an ihn glauben? Wann endlich wird sich zeigen, was gut und böse war und ist in dieser Welt? Wann wird die Lüge als Lüge entlarvt und die Wahrheit endlich frei machen? Manche verstehen diese Frage vielleicht persönlicher: Wann endlich wird mein Leiden ein Ende haben? Wann endlich wird Jesus meine wunde Seele ganz heil machen? Wann kommt das Reich Gottes? Zugleich kommt in dieser Frage aber auch ein großer Glaube zum Ausdruck. Denn nach dem wann kann nur fragen, wer tatsächlich glaubt, dass das Reich Gottes kommen wird. Und deshalb ist diese Frage ganz berechtigt. Es ist eine Glaubens-Frage. Jesus nimmt diese Frage ganz ernst. In Lukas 17 sind es einige Pharisäer, die ihm genau diese Frage stellen: „Die Pharisäer fragten Jesus: »Wann kommt das Reich Gottes?« Jesus antwortete: »Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Anzeichen erkennen kann. Man wird auch nicht sagen: ›Schau her, hier ist es!‹, oder: ›Dort ist es!‹ Nein, das Reich Gottes ist schon da – mitten unter euch.«.“ (Lukas 17,20-21)

 

Wir täten den Pharisäern Unrecht, wenn wir ihnen unterstellen würden, dass sie diese Frage nicht ernst gemeint hätten. Sie wollen Jesus hier keine Fangfrage stellen. Gerade in der Frage der Pharisäer kommen die tiefe Sehnsucht und der Glaube zum Ausdruck, dass Gott einmal eingreifen wird. Seit dem 6. Jahrhundert vor Christus galt der Beginn der Königsherrschaft Gottes angesichts der Katastrophen in der Geschichte Israels als die große Zukunftshoffnung Israels. Eindrucksvoll kommt das in den „Thronbesteigungspsalmen“ zum Ausdruck (siehe die Psalmen 47; 98 und 96-99). In diesen Liedern wird der Tag besungen und herbeigesehnt, an dem der Gott Israels aus der Verborgenheit tritt und sich in seiner Pracht vor aller Welt offenbart. Im Jerusalemer Tempel und in den Liturgien der Synagogen zur Zeit Jesu war diese Reich-Gottes-Sehnsucht ein zentrales Element.

 

Die Pharisäer trugen also eine große biblische Hoffnung in ihren Herzen, als sie fragend vor Jesus standen. Wenn wir uns die in den genannten Psalmen besungene Thronbesteigung Gottes vor Augen führen, wird deutlich, dass Jesu Antwort ganz auf die Vorstellungswelt der Pharisäer eingeht. Denn die Thronbesteigung Gottes wird nicht als ein geistlich-unsichtbares Geschehen beschrieben, sondern als ein universal-kosmisches Ereignis. Die Völker dieser Welt und die gesamte Schöpfung sollen den lebendigen Gott auf seinem Thron anbeten: „Berge schmelzen wie Wachs vor dem HERRN, vor dem Herrscher über die ganze Welt. Die Himmel erzählen von seiner Gerechtigkeit, und alle Völker sehen seine Herrlichkeit.“ (Psalm 97,5-6)

 

Das also erwarteten fromme Juden vom Beginn des Reiches Gottes. Das Reich Gottes musste doch zu erkennen sein! Aber Jesus sagt: Nein! An äußeren Zeichen werdet ihr es nicht erkennen. Warum dieses Nein? Um die Verkündigung Jesus vom Reich Gottes zu verstehen, ist es hilfreich, zwischen dem anbrechenden und dem vollendeten Reich Gottes zu unterscheiden. Jesus teilte die kosmisch-universale Reich-Gottes-Hoffnung mit den Pharisäer. Ja, so wird es einmal sein! Aber – und das ist das Neue – so beginnt es nicht! Es beginnt hier und jetzt im messianischen Wirken Jesu. Die Pointe der Wachstumsgleichnisse vom Reich Gottes (z. B. die Gleichnisse vom Wachsen der Saat und vom Senfkorn, Markus 4,16-32) besteht darin, dass das Reich Gottes durch Jesus auf Erden schon begonnen hat (das anbrechende Reich Gottes) und in Zukunft einmal seine kosmisch-universale Vollkommenheit erreichen wird (das vollendete Reich Gottes).

 

Was aber meint Jesus, wenn er antwortet: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ In der Auslegung dieses Verses wird in der modernen liberalen Theologie gerne gesagt, dass das Reich Gottes in den Herzensregungen jedes Menschen beginne. So kommentiert etwa schon der Theologe Adolf von Harnack in seinem Werk „Das Wesen des Christentums“ (1950), das Reich Gottes „sei eine stille, mächtige Gotteskraft in den Herzen […]. Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält, und sie es ergreifen.“ Auch die ältere Luther-Übersetzung „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“ scheint diese Interpretation nahezulegen.

 

Ist das Reich Gottes also in den hoffnungsvollen Herzen der Pharisäer schon angelegt? Auch wenn die alte Luther-Übersetzung vom griechischen Urtext her möglich wäre, meint Jesus in seiner Antwort doch wohl etwas ganz anderes. Das Reich Gottes beginnt nicht in der menschlichen Wunsch- und Vorstellungswelt, sondern in der Person Jesu selbst. Er ist der Repräsentant des Reiches Gottes. Er selbst, der in diesem Gelehrtengespräch „mitten unter die Pharisäer getreten“ ist, ist der Beginn des Gottesreiches (vgl. das Wort von Johannes dem Täufer in Johannes 1,26). Der Kirchenvater Origenes hat zu dieser Antwort Jesu an die Pharisäer bemerkt: Jesus ist die autobasileia, d. h. er ist das Reich Gottes in Person. Ob die Pharisäer Jesus gefolgt sind? Wir wissen es nicht. Aber die Antwort Jesu hat klargemacht: Das Reich Gottes ist nicht von außen, wie von einer neutralen Zuschauerposition aus, erkennbar. Aber wer Jesus Glauben und Gehorsam entgegenbringt, der wird die Wunder des anbrechenden Reiches Gottes sehen.

 

Wann kommt das Reich Gottes? Das Reich Gottes kommt dorthin, wo Jesus ist. Es ist aber nicht auf die physische Präsenz Jesu beschränkt. Denn Jesus verändert Menschenherzen. Damals durch sein eigenes Wort, heute durch seinen Heiligen Geist. Das Reich Gottes kommt dorthin, wo Jesus wirkt. Er heilt und setzt frei (Lukas 11,20): zu einem Leben mit dem lebendigen Gott, zu einer tiefen Freude an dem, was Gott uns schon geschenkt hat und zu einer unverwüstlichen Hoffnung auf das, was da noch kommt. So kommt das Reich Gottes schon jetzt auch zu uns. So wächst die Saat vom Reich Gottes „mitten unter uns“. Eines Tages wird sie groß und wunderbar aufgehen. Am Ende steht nicht das Chaos. Am Ende steht nicht der Weltuntergang. Am Ende steht nicht das Verderben. Auf ein solches Ende zu warten ist der Trend unserer apokalyptischen Zeit. Für den Glauben ist aber klar: Am Ende steht der, dem schon jetzt alle Zukunft gehört. Am Ende steht der, dessen Reich längst angebrochen ist: Jesus Christus.

 

 

Matthias Riedel
Albrecht-Bengel-Haus (https://www.bengelhaus.de/)

(Erschien ursprünglich in Theologische Orientierung Nr. 207, S. 20-21 mit dem Titel "Das Reich Gottes ist mitten unter euch: Wie meint Jesus diesen Satz?")

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Geändert am: 14.08.2024

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